Jordan Lotomba: «Le Petit» mit grossem Talent

03.09.2018 00:00

Jordan Lotomba: «Le Petit» mit grossem Talent

Jordan Lotomba wird Ende September 20-jährig. Der vielseitige Defensivspieler steht vor einer interessanten Karriere. Und der Schweizer Nachwuchsnationalspieler will bei Meister BSC Young Boys in dieser Saison den Durchbruch realisieren.

Die Liste erschien im Winter, erstellt vom Cies Football Observatory, einer renommierten Sportforschungsgruppe aus Neuenburg, es ging um die 50 grössten Talente unter 20 Jahren im europäischen Fussball. Milans stark begabter Goalie Gianluigi Donnarumma führte sie an, Frankreichs Überflieger Kylian Mbappé lag noch auf Rang 3, heute wäre er als Weltmeister wohl Erster, und unter den Top 50 wurden auch gleich vier Schweizer Innenverteidiger aufgeführt. Jan Bamert vom FC Sion auf Platz 18 sowie Jordan Lotomba (YB, 19.), Cedric Zesiger (GC, 29.) und Eray Cömert (FC Basel, 50.).

Der wohl vielversprechendste Akteur aus diesem Quartett ist Jordan Lotomba, immer noch 19 Jahre jung, Super-League-Stammspieler vor zwei Saisons bei Lausanne-Sport, Wechsel zu den Young Boys im Sommer 2017, seit Jahren hochgehandelter Defensivspieler mit allerbesten Perspektiven. «Ich habe selten einen jungen Spieler gesehen mit derart viel Potenzial», sagte der damalige YB-Trainer Adi Hütter im Frühling 2018.

Die Angebote

Bereits sehr früh war Lotomba unter Beobachtung von Topvereinen aus der Schweiz und den grossen Ligen gestanden. Als er sich vor etwas mehr als einem Jahr dazu entschloss, Lausanne zu verlassen, standen die Interessenten Schlange. «Es gab einige Angebote», sagt Lotomba, «aber für mich war relativ früh klar, dass YB der perfekte Verein für mich ist.» Einerseits, weil der in der Romandie aufgewachsene Youngster so immer noch relativ nahe bei Eltern und Geschwistern leben kann. Und andererseits, weil sich die Young Boys in den letzten Jahren für mehrere hoffnungsvolle junge Schweizer Fussballer als ideales Sprungbrett erwiesen haben. Unter anderem für Yvon Mvogo und Denis Zakaria, die wie Lotomba in der Westschweiz aufwuchsen und dunkelhäutig sind. Die Zukunft der Schweizer Nationalmannschaft wird ohnehin geprägt sein von Akteuren mit afrikanischen Wurzeln, erwähnt seien auch Manuel Akanji und Breel Embolo.

Jordan Lotomba, der Vater Angolaner und die Mutter aus dem Kongo, wird früher oder später ebenfalls für die Schweiz Länderspiele bestreiten, darin sind sich alle Beobachter einig. «Er bringt alles für eine grosse Karriere mit», sagt YB-Sportchef Christoph Spycher. «Und dazu zähle ich nicht nur seine fussballerischen Qualitäten. Sondern auch seinen Charakter und die Bereitschaft, hart an sich zu arbeiten.»

Der Blitzstart

Auch Spycher hatte den Weg Lotombas vor dessen Wechsel nach Bern jahrelang verfolgt, und natürlich taten das auch die einflussreichen YB-Mitarbeiter Stéphane Chapuisat (Scoutingchef) und Gérard Castella (Ausbildungschef), die sich als Romands in ihrer Heimat bestens auskennen. Auch weil die beiden regelmässig mit Lotomba sprachen, entschied sich dieser für den Transfer zu den Young Boys – und sagte dem FC Basel, Schalke und jeder Menge anderen Vereinen ab.

Auch im Sommer 2018 wurde der 19-Jährige auf dem Transfermarkt immer wieder mit Clubs aus dem Ausland in Verbindung gebracht, zum Beispiel Napoli, Marseille und Leverkusen, doch Lotomba ist ein ruhiger, besonnener Kerl. Er sagt: «Mein Weg bei YB ist noch lange nicht zu Ende. Ich kann und muss viel lernen. Und ich will mich zuerst hier richtig durchsetzen, bevor ich mich ernsthaft mit einem Wechsel in eine Topliga auseinandersetze.»

Die erste Saison bei den Young Boys verlief für Lotomba erfreulich, nicht nur wegen des Meistertitels. Sondern auch, weil er mit 18 Jahren einen exzellenten Start erwischte. Er etablierte sich sofort als Fixkraft, schoss YB im August 2017 mit seinem Last-Minute-Tor gegen Dynamo Kiew in die Playoffs zur Champions League und war im Herbst eine Stütze der erfolgreichen Mannschaft. «Ich habe viel erlebt in meinem ersten Jahr bei YB», sagt Lotomba, «aber natürlich gehören für einen jungen Spieler wie mich auch Rückschläge dazu.»

Die Verletzungen

Wenn Lotomba von Rückschlägen spricht, meint er in erster Linie seine Probleme mit dem rechten Knie. Im Winter wurde er erstmals operiert, nach der Saison ein zweites Mal, zwischen den beiden Eingriffen bestritt er nicht mehr viele Begegnungen. Der regelmässig verletzt gewesene Loris Benito eroberte den Platz hinten links, den Lotomba in der Vorrunde besetzt hatte, und als Rechtsverteidiger startete Kevin Mbabu endgültig und unwiderstehlich durch. «Wir haben ein sehr starkes Team», sagt Lotomba, «der Konkurrenzkampf ist auf hohem Niveau.» Am Ende einer langen Spielzeit hatte er dennoch immerhin 33 Pflichtspiele bestritten, darunter den Cupfinal als Ersatz des gesperrten Mbabu. Aber Lotomba lief es wie seinen von den vielen Meisterfeierlichkeiten ein wenig satten Mitspielern nicht gut, zur Pause wurde er ausgewechselt, die Young Boys verloren den Final überraschend gegen den FC Zürich 1:2. «Das war eine bittere Niederlage», sagt Lotomba, «aber auch ich werde die wunderschönen Emotionen nach dem Meistertitel nie mehr vergessen.» Er sei jung und werde hoffentlich noch einmal einen Cupfinal bestreiten.

Ende September wird Jordan Lotomba 20, und wenn sein rechtes Knie hält, könnte der ballsichere, technisch starke Jungspund in dieser Spielzeit den Durchbruch realisieren. Bei YB ist er als Nachfolger Mbabus vorgesehen, der irgendwann wieder ins Ausland wechselt. Doch der polyvalente Akteur kann auf beiden Aussenverteidigerpositionen und auch im Mittelfeld überall spielen. «Mir spielt es eigentlich keine Rolle, wo ich eingesetzt werde», sagt Lotomba, «aber am liebsten bin ich schon im Mittelfeld.» Wie sein Lieblingsspieler, der mittlerweile in Japan spielende Spanier Andres Iniesta.

Die Besonnenheit

Als Fan des FC Barcelona ist Lotomba aufgewachsen, die Primera Division ist seine Wunschdestination, aber auch die Premier League oder die Bundesliga reizen ihn sehr. «Jeder Bub wächst mit dem Traum auf, irgendeinmal bei einem europäischen Spitzenverein spielen zu können», sagt er. Aus dem Buben ist ein junger Mann geworden, der Traum ist geblieben. Lotomba ist bescheiden und anständig genug, um seine Ambitionen in kluge Sätze zu kleiden: «Es geht nur Schritt für Schritt. Ich werde niemals zu früh ins Ausland wechseln, nur damit ich in einer grossen Liga spiele. Bei einem Transfer muss alles passen.» Mit seiner bodenständigen Art sei Lotomba ein Glücksfall, sagt sein Förderer Gérard Castella. «Um ihn muss man sich keine Sorgen machen, dass er die Bodenhaftung verliert.»

«Le Petit» nennen sie Lotomba bei den Young Boys, obwohl er mit 1,77 m Grösse gar nicht besonders klein ist. Aber der erstaunlich kampfstarke Techniker wirkt ziemlich filigran. In Bern gefällt es ihm äusserst gut, er lebt in der früheren Wohnung von Yvon Mvogo im Breitenrainquartier, nimmt es in seiner Freizeit gemütlich, spielt gerne Basketball und Tischtennis – und bildet sich beim Studium von Fussballpartien am TV weiter. «Meine Entwicklung ist noch lange nicht zu Ende», sagt Lotomba, «ich muss mich in allen Bereichen verbessern und vor allem offensiv druckvoller werden.» Auch sein neuer Clubtrainer Gerardo Seoane ist vom langjährigen Schweizer Nachwuchsnationalspieler begeistert. «Er war zwar zu Beginn der Saison verletzt», sagt der YB-Coach, «aber es ist bekannt, über welche herausragenden Fähigkeiten er verfügt.»

Der Stolz

Die Young Boys sind gewillt, ihrem grossen Talent die notwendige Zeit zu geben, um nach seiner Verletzung das Topniveau zu erreichen. «Ich habe keinen Stress und werde erst 20», sagt Lotomba. Die Liste der 50 besten U-20-Fussballer Europas hat er übrigens vor ein paar Monaten selbstredend registriert. «Ich dachte, da geht noch mehr», sagt er schmunzelnd. Und dann ernsthaft: «Das macht einen schon stolz, mit derart vielen tollen Spielern in einer Reihe zu stehen. Aber es geht weiter, ich darf mich nicht ausruhen.» Und weil er nicht unter Verdacht steht, ein bequemer, überheblicher Typ zu sein, dürfte dieser Jordan Lotomba in den nächsten Jahren noch auf der einen und anderen Liste interessanter Fussballer auftauchen.

(fdr)